Kontroverse Siegfriedskopf

Die Schrift verteidigt sich selbst

Wir haben den Siegfriedskopf von seinem Sockel gestürzt, in seine Bestandteile zerlegt und mit Schrift ummantelt. Diese Schrift dominiert die Skulptur und schildert antisemitische Übergriffe an der Universität Wien in den 1920er Jahren, die vor allem die Gruppe zu verantworten hat, die den Siegfriedskopf finanzierte. Sollten zukünftig Angriffe auf die Erzählung stattfinden, weil der Kontext des Antisemitismus nicht anerkannt wird, so kann die Schrift sich im wahrsten Sinn des Wortes ,verteidigen‘ und ihre Dominanz von Mal zu Mal verstärken.
Bele Marx & Gilles Mussard

Vor allem die Schrift, als Zeugnis historischer sowie kultureller Vergangenheit und Gegenwart, steht im Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung: Das geschriebene Wort erhält zentrale Bedeutung. Denn Geschichte wird durch Schrift festgehalten und dokumentiert, und es sind wiederum Schriften, die in diktatorisch geführten Regimes zensuriert oder gar vernichtet werden.

Um die Schrift als aktives Element einzubeziehen, wurde eine Darstellungsform gewählt, die jene als Teil eines sich stets verändernden Prozesses sieht. Das Künstlerpaar hat mit seiner Arbeit das Thema Bücherverbrennung in der Form thematisiert, dass die Schrift im Falle eines Eingriffs diesem entgegenwirken kann. Je mehr auf die Erzählung losge­gangen werden würde, umso deutlicher würde die Erzählung in den Vordergrund treten und die Skulptur noch mehr dominieren. In subtiler Weise antwortet und verteidigt sich die Schrift-Skulptur, wenn notwendig, gegenüber möglichen Eingriffen.

Der Siegfriedkopf, ursprünglich 1923 zur Ehrung der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in der Aula der Universität Wien aufgestellt, wurde bald zur Ikone der deutsch-nationalen Studentenverbindungen. Im Zuge des Umbaus und der Sanierung von Aula, Seitenaulen und Arkadenhof der Universität, sollte auch dieses Monument im kritischen Licht der Geschichtsaufarbeitung präsentiert werden. Bele Marx & Gilles Mussard haben den Siegfriedkopf von seinem Sockel »gestürzt« und ihn mit einer Schrift ummantelt. Diese Schrift dominiert die Skulptur und schildert antisemitische Übergriffe an der Universität Wien in den 20er Jahren, die vor allem die Gruppe zu verantworten hatte, die den Siegfriedskopf finanzierte. In subtiler Weise »antwortet« und »verteidigt sich« die Schrift-Skulptur, wenn notwendig, auf mögliche Eingriffe und lässt die Erzählung akkurat und von Mal zu Mal stärker hervortreten.

>>> Folder der Universität Wien

Kontroverse Siegfriedskopf

Im Zuge des Umbaus und der Sanierung von Aula, Seitenaulen und Arkadenhof der Universität Wien wurde der Siegfriedskopf von der Aula in den Arkadenhof verlegt. Die sich über mehrere Dekaden hinziehende Kontroverse um das Gefallenendenkmal waren Anlass, den Siegfriedskopf durch ein Kunstprojekt in einen neuen Kontext zu stellen. Mit der künstlerischen Konzeption und technischen Ausführung wurden Bele Marx & Gilles Mussard beauftragt. Der neue Kontext des Gefallenendenkmals wurde mit Roger Baumeister, dem Architekten der Universitäts-Neugestaltung, sowie dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien unter Leitung von Ao.Univ.Prof.Dr.Mag. Friedrich Stadler zusammen mit Mag. Mario Wimmer erarbeitet.

In der Neu-Disposition und der parallel dazu verlaufenden künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Siegfriedskopf wurde die Grundstimmung der Zwischenkriegszeit an der Universität Wien und der jahrzehntelange Diskurs um das Denkmal nachgezeichnet.

Die vom Bundesdenkmalamt geforderte Witterungshülle aus Glas unterstützte die Idee, die Hülle gleichzeitig als Träger von Textbeiträgen und Fotografien aus Tageszeitungen von 1923 (dem Jahr, in dem der Siegfriedskopf aufgestellt wurde) bis heute einzusetzen. Aufbauend auf diesen Vorgaben der Architekten begann die künstlerische Intervention. Das Objekt besteht nunmehr aus mehreren Glasebenen und Einheiten.

Der äußere Kubus ist Träger eines zeitgeschichtlichen Textes von Minna Lachs, sie beschreibt darin exemplarisch eine Situation antisemitischer Übergriffe in den 1920er Jahren. Im inneren Teil des Glaskubus befinden sich weitere Glasflächen mit Texten und Fotografien aus Publikationen. Über eine neben der Skulptur stehende Informationsstation werden ergänzend, am Beispiel von vier Zeitschichten – 1914-1923, 1938-1945, 1965-1968, 1990 bis zur Gegenwart – unterschiedliche Reaktionen sichtbar gemacht, für die das Denkmal stand und steht. Die Texte wurden unter wissenschaftlicher universitärer Beratung ausgewählt und liefern einen Beitrag zu den historischen Hintergründen und den vielschichtigen Vorgängen um das Denkmal.

Die Neupositionierung war architektonisch notwendig und es war politisch sinnvoll den Senatsbeschluss aus den 1990er Jahren, den Siegfriedskopf zu verlegen, endlich zu realisieren. So wurde aus der Universitätsaula ein Objekt entfernt, das seit Jahrzehnten für Diskurs und Auseinandersetzung sorgte. Ursprünglich als Kriegerdenkmal geplant, war der Siegfriedskopf 1923 in der Aula der Universität aufgestellt und bald zur Ikone der deutsch-nationalen Studenten Verbindungen geworden, zum Symbol für politischen Extremismus, Faschismus und Antisemitismus. Er war kein Symbol für eine freie, offene und moderne Universität.

Ortsveränderung, Fragmentierung, Kontextualisierung und künstlerische Neuinszenierung des Objekts sollen zur kritischen Reflexion der österreichischen Vergangenheit und der daran anknüpfenden Kontroversen einladen.

Eröffnungrede von Angelica Bäumer
anlässlich der Präsentation der Schriftskulptur im Arkadenhof der Universität Wien im Juli 2006

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ – diesen flammenden Appell einer großen Dichterin müssten wir uns täglich vor Augen halten. Die Wahrheit – wie oft ist sie gebogen und gebrochen worden, umgeformt, zur gerade passenden politischen Lage von Kirche, Staat und bürgerlichem Recht.

Nehmen wir hier und heute „Wahrheit“ als Überlegung für den seit Jahrzehnten wild umstrittenen Siegfriedskopf:

Ein Kriegerdenkmal sollte der Gefallenen der Universität im 1. Weltkrieg gedenken – an Professoren und Assistenten, Studenten, Bibliothekare und Pedelle erinnern. Der Tod macht alle Menschen gleich – es sollte Aller gedacht werden.

Aber die Lebenden missbrauchen die Toten. Sie, die sich nicht mehr wehren können gegen die Einvernahme von links oder rechts, von Religion und Politik, sie, die tot und stumm sind, müssen es sich gefallen lassen, dass ihnen melodramatische und scheußliche Denkmale errichtet werden, dass sich radikale politische Agitation bis zu kriminellen und menschenverachtenden Handlungen um die Denkmale zu ihren Ehren abspielen. Es waren nicht zuletzt die Krawalle in den 20er und 30er Jahren um den Siegfriedskopf, der den deutschnationalen Burschenschaften das Motiv für ihre antisemitischen und antijüdischen Parolen und Attacken bot. Nicht genug damit, einen schrecklichen Krieg und Abermillionen Tote später ging der Streit um diesen Schädel weiter, der es nie zu einer kunsthistorischen Bedeutung bringen würde, stünden wir nicht heute vor diesem neuen Denk-Mal.

Aber nicht nur die Aggression der deutschnationalen und neonazistischen Studenten und solcher, die sich ihnen aus Freude am Krawall anschließen, ist der Skandal, der sich in der ehrwürdigen Universität in Wien bis in unsere Zeit abspielt, sondern auch die – nennen wir es höflich – Mutlosigkeit, lieber würde ich Feigheit sagen, der Verantwortlichen dieses hohen Hauses. Dass die Polizei in der Universität keine Befugnis zum amtshandeln hat, müsste da aufhören, wo Menschen zusammengeschlagen werden. Es kann doch nicht sein, dass ein paar Radikale – und durch ihre leichten Erfolge (und durch die mediale Aufmerksamkeit) werden es ja immer mehr, eine Universität in Verruf bringen, die einst international geachtet und bewundert wurde, ob ihrer ausgezeichneten Lehre und Lehrer.

Nach langen, erfolglosen Bemühungen, die teilweise wegen zu opulenter und teurer Vorschläge nicht realisiert werden konnten, ist nun nicht nur der Eingang in die Universität neu und großzügig gestaltet, es sind nicht nur klare und schlichte Worte für die Toten und Vertriebenen des Hauses angebracht, es ist auch ein endgültiger Platz für den unseligen Siegfried gefunden.
Die Universität und ihre Verantwortlichen sind mutiger geworden, sie haben die Zeichen der Zeit erkannt. Es hat sich ein Team gefunden, das sich auf beste Weise ergänzt. Man darf mit Freude festhalten, dass heute ein Denkmal enthüllt wird, das immer noch den alten Siegfried zeigt, aber optisch verändert, geistig umgedacht und künstlerisch verwandelt.

Im Zentrum der Arbeit steht die Schrift. Damit soll nicht nur die Geschichte des Denkmals erzählt, sondern auch daran erinnert werden, dass es die Schrift ist, mit der Geschichte geschrieben und Geschichte dokumentiert wird. Dass es Bücher sind, die in totalitären Regimes der Zensur, der Verbrennung und Vernichtung zum Opfer fallen.

Die beiden Künstler haben das Denkmal in seine skulpturalen Teile zerlegt, und haben die isolierten Teile einem jeweiligen Glasraum zugeordnet. Eine archäologische Intervention sozusagen. Sie haben den Schutz vor Witterung, den das Denkmalamt forderte, so gestaltet, dass es möglich wurde die Geschichte zu erzählen. Höchst raffiniert wurde in das schützende Glas die Schrift wie eine Verletzung zwischen die Glasscheiben eingebettet. Man muss um den Körper herumgehen, ihn umkreisen und Zeile für Zeile entziffern. Nur so erfährt man die Wahrheit der Geschichte.

Künstler sind in vielen Dingen offener und sehen Dinge anders und unkonventionell, sie haben empfindsamere Sensoren. Sie müssen die Wahrheit sagen, die sie erkannt haben und sie müssen diese Wahrheit mit ihrer Kunst vermitteln. Oft genug sind sie nicht verstanden worden, sind persönlich verfolgt und ihre Werke zerstört worden. Auch die Universität ist nicht davor gefeit zeitgenössische Kunst abzulehnen, hohe Intelligenz und Intellekt haben oft nichts mit dem Verstehen von Kunst zu tun – wie man an dem Unverstand gegenüber den Klimt Bildern für die Universität erfahren konnte.

Die Skulptur von Bele Marx und Gilles Mussard mag in ihrer Vielschichtigkeit, in ihrer ungewohnten Form auch auf Unverständnis stoßen. Der hinterrücks gemeuchelte Siegfried ist nicht mehr der Held des Denkmals, sondern die Geschichte, für die dieses Objekt steht und für die aggressiven Aktionen, die dieser künstlerisch wertlose Kopf, eines zu Recht vergessenen Bildhauers, in Jahrzehnten ausgelöst hat. Jetzt ist es das Wort, das Zitat, die Schrift, die die Toten ehrt. Und man muss sich um das Verstehen bemühen. Man kann nicht mehr achtlos vorbeigehen, man muss stehen bleiben und nachdenken – vielleicht versteht man jetzt besser, dass dieses Objekt nun nicht mehr nur ein ästhetisches Werk ist, sondern im sprachlichen, künstlerischen und spirituellen Sinn zu einem Denk-Mal wurde.

Es galt die Wahrheit zu finden, getreu dem eingangs erwähnten Ingeborg Bachmann Zitat, „die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ – ich bin sicher, dass mit dieser außergewöhnlichen Schriftskulptur von Bele Marx und Gilles Mussard und ihrer vielschichtigen Aussage Wahrheit gefunden wurde – für alle, die sie zu erkennen und anzunehmen bereit sind.

Autobiografische Erinnerung von Minna Lachs

Text auf dem Glaskubus

»In der Germanistik interessierten mich zunächst die Vorlesungen des Prof. Paul Kluckhohn, des Experten für die deutsche Romantik. Doch ich kam bald darauf, daß er, wie immer er seine Vorlesungen auch betitelte, unweigerlich bei der deutschen Romantik landete und dort auch aufhörte. Ich war im 3. Semester, als ich mich bei Prof. Kluckhohn zu einem Kolloquium anmeldete. Er hielt die Prüfungen in Dreiergruppen ab und gestattete Studierenden zuzuhören. Ich war in einer Gruppe mit zwei ahnungslosen Studenten, die sich anscheinend auf ihre Schmisse verlassen hatten. Der eine schüttelte bei der ersten Frage den Kopf und tat den Mund fast nicht auf, und die Frage ging an den zweiten Prüfling über, der Unzusammenhängendes murmelte, und die Frage landete bei mir, ich beantwortete sie richtig und ausführlich. Das ging so eine Weile, bis sich der Professor erhob.

Wir folgten ihm alle drei, von Freunden begleitet, zum Dekanat, um die Zeugnisse entgegenzunehmen. Die beiden Burschen hatten ein ›Gut‹, und ich war nur gerade durchgekommen. ›Das muß ein Irrtum sein‹, sagten die beiden Kollegen, ›wir warten mit Ihnen, bis der Herr Professor heraus kommt und Sie ihn gleich fragen können.‹ Nach einigem Sträuben gab ich nach. Ich hielt Prof. Kluckhohn mein Zeugnis hin und sagte: ›Ich habe doch alle Fragen beantwortet, Herr Professor, ist dies nicht ein Irrtum?‹ Er antwortete nicht und ging hoch erhobenen Hauptes an mir vorbei, als ob ich Luft wäre. Die Umstehenden waren betroffen, aber ich nicht, denn ich wußte, was es bedeutete, im Meldebuch, in der Spalte Geburtsort, ›Trembowla, Polen‹ stehen zu haben.
Jeden Samstag hatten die deutsch-nationalen Studenten der schlagenden Verbindungen ihren Korso in den Wandelgängen der Universität. Anschließend stürmten sie die Hörsäle mit dem Ruf: ›Juden raus!‹ Ich wußte von keinem Professor, der sich ihnen entgegengestellt hätte. Daher war ich auch sehr erstaunt über das Verhalten von Professor Kluckhohn, als sie in seine Vorlesung eindrangen. Wieder schrien sie ihr ›Juden raus‹. Da nahm der Professor seine Skripten und sagte laut und ruhig: ›Wir gehen alle.‹
Ein Samstag ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Die Burschenschafter waren wieder mit ›Juda verrecke‹ in die Hörsäle gestürmt und zerrten die jüdisch aussehenden Studenten unter Schlägen aus dem Saal und prügelten sie bis zur Rampe der Universität hinunter. Unter den Mißhandelten war diesmal ›Blümchen‹; so nannten wir einen typisch intellektuell aussehenden Studenten – starke Augengläser, schmächtige Gestalt – namens Blum. Es war ein veritabler Spießrutenlauf. Auf der Straße stand ein Polizeikordon. Die Wachleute sahen zu, wie die Bande einzelne Wehrlose blutig prügelte, denn die Polizei durfte akademischen Boden nicht betreten. Sie sahen unbewegt oder auch spöttisch lächelnd, sogar hämisch, der ›Hetz‹ zu. Wir anderen standen hinter dem Polizeikordon und konnten nur ohnmächtig mit Schreien protestieren. Die Korpsstudenten hatten zuerst Blümchens Augengläser zerschlagen, und er bot in seiner Wehrlosigkeit einen jammervollen Anblick. Wir schrien alle ›Feiglinge, Feiglinge‹ im Chor, ›das ist deutscher Mannesmut, eine ganze Bande gegen einen!‹ Ich stand hinter einem älteren, grauhaarigen Polizisten und merkte gar nicht, was ich schluchzend in ohnmächtiger Wut schrie. Er drehte mir seinen Kopf zu und flüsterte: ›Vorsicht, Fräulein, die merken sich ihr Gesicht, und dann kommen Sie dran.‹ Ich weiß nicht recht, was weiter geschah. Ich erinnere mich nur an den Rettungswagen, den jemand telephonisch herbeigerufen hatte, und daß man ›Blümchen‹, der vor der Rampe am Boden lag, in den Wagen hineinhob.
In diesem Zusammenhang muß ich von einer merkwürdigen Begebenheit berichten, die wir nie ganz enträtseln konnten. Es war an einem der letzten Vorlesungstage vor dem Beginn der Semesterferien. Ich wollte noch schnell etwas in einem Nachschlagewerk in der Universitätsbibliothek überprüfen. In der Aula und auf Stiegen und Gängen sah es schon nach Ferien aus, doch mir schien, als ob etwas in der Luft läge. Ich nahm mir vor, mich sehr zu beeilen. Auf dem Gang zum Lesesaal der Bibliothek kam mir ein eher professoral aussehender Herr entgegen, der mich aufmerksam betrachtete. Ich saß schon mit meinem Buch auf einem der vorderen Plätze, als ich ihn eintreten sah. Er blickte sich um und setzte sich auf einen Platz in meiner allernächsten Nähe, jedoch ohne ein Buch zu verlangen. Er sah zu mir herüber, zog ein Merkbuch aus seiner Tasche und begann etwas zu schreiben. Plötzlich hörte man draußen Pfiffe und Geschrei, es war ein furchtbarer Lärm. Man prügelte wieder. Abermals sah der Herr zu mir herüber. Diesmal ließ er seinen Blick länger auf mir ruhen. Der will doch etwas von mir, dachte ich, und ich spürte Angst in mir aufsteigen. Zwei Saalbeamte liefen zur Tür, um sie zu verschließen. Doch es war zu spät. Mit erhobenen Stöcken stürmten die Kerle in den stillen Lesesaal: ›Raus, ihr feigen Saujuden, raus! Wir finden euch schon!‹ Plötzlich stand der Herr hinter mir und zeigte auf irgend etwas in meinem Buch. Ich glaube, ich zitterte am ganzen Körper und sah nur aus den Augenwinkeln die Bande, die von den hinteren Plätzen einzelne Studenten mit blutenden Köpfen vor sich hertrieb und sie durch die Türe auf den Gang hinausstieß. Ein Pedell schloß rasch die Türe ab, ein anderer versuchte die Blutspuren wegzuwischen. Man konnte ausnehmen, wie die Burschenschafter ihre Opfer die Stiegen hinunterwarfen und mit ihrem ›Juda verrecke!‹ zum nächsten Hörsaal stürmten. Mir schien, daß nicht nur ich, sondern alle im Hörsaal Zurückgebliebenen den Atem anhielten. ›Sie sind weitergezogen‹, sagte die sonore Stimme des Mannes hinter mir, der sich jetzt auf den leeren Platz neben mir setzte und weiter in sein Notizbüchlein schrieb. Ich blickte fassungslos in mein Buch und fühlte seine Blicke auf mir ruhen. Nach einer langen Weile schloß der Pedell die Türe wieder auf. Mein Nachbar half mir in den Mantel, der über meiner Stuhllehne hing, und ging mir voran auf die Tür zu. Er sah um sich und sagte: ›Darf ich Ihnen jetzt meinen Arm anbieten, damit wir hier schnell hinauskommen.‹ – ›Ich danke Ihnen‹, sagte ich leise. Ruhig, Belangloses sprechend, führte er mich die Stiegen hinunter, an den Haudegen vorüber bis zur Aula und geleitete mich durch die offene Tür die Rampe hinunter. Er blieb stehen und zog seinen Hut. ›Jetzt sind Sie in Sicherheit und können ruhig nach Hause gehen.‹ Er verneigte sich leicht, und ich konnte ihm zum ersten Mal voll ins Gesicht sehen. Es war das gut geschnittene Gesicht eines nicht mehr jungen Mannes mit geistig ausgeprägten Zügen. ›Wollen Sie mir nicht Ihren Namen verraten?‹ fragte ich mit noch immer verängstigter Stimme. – ›Der Name tut doch nichts zur Sache‹, sagte er lächelnd, verneigte sich, ›Küß‘ die Hand‹, und stieg in die eben einfahrende Straßenbahn. Ich bin ihm nie wieder begegnet. Noch immer verstört kam ich heim und erzählte, was ich eben erlebt hatte. ›Das war dein Schutzengel. Du weißt doch, daß du einen besonderen Schutzengel seit deiner Geburt hast‹, sagte Babcia, die damals bei uns lebte, gelassen. ›Wie hat dieser Dozent oder Professor gewußt, was geschehen würde?‹ fragte Mama. ›Er dürfte manches zufällig beobachtet oder gehört haben, sonst würde er nicht zum Lesesaal zurückgegangen sein‹, sagte Papa. Ich aber hatte den Eindruck, daß er mich vielleicht vom Sehen kannte, während er mir nie aufgefallen war.«

Autobiografische Erinnerung
Minna Lachs, »Universitätsjahre«, in:
Warum schaust du zurück. Erinnerungen 1907-1941
(Europaverlag: Wien München Zürich 1986),
Seite 150-155, 151ff.

Minna Lachs

»Minna Lachs, 1907 als Minna Schiffmann in Trembowla, Ostgalizien, geboren. 1914 Flucht vor den Kriegsereignissen nach Wien. Studium der Germanistik, Romanistik und Psychologie, Lehramt, und Promotion mit einer Arbeit über die deutsche Gettogeschichte. Frühzeitig aktiv in der jüdischen Jugendbewegung, wo sie unter anderen Manès Sperber kennen lernt. Sprachunterricht an Privatmittelschule, über die Bildungsbewegung in die Sozialdemokratie. 1938 im Juli Geburt eines Sohnes. Emigration in die Schweiz, von dort über Spanien auf dem berüchtigten Flüchtlingsschiff ›Navemar‹ in die Vereinigten Staaten. Unterricht an Privatschulen.
1947 Rückkehr nach Wien ›aus dem Glauben an das andere Österreich‹. Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit an Mittelschulen. 1954 Direktorin einer Wiener Mittelschule. Ab 1950 Arbeit für Unesco. 1956 Vizepräsidentin der österreichischen Unesco-Kommision.«

Aus: Minna Lachs, Warum schaust du zurück.
Erinnerungen 1907-1941
(Europaverlag: Wien München Zürich, 1986).

Bücher und Publikationen: Autobiografie in 2 Bänden,
Bücher und Artikel zum Fremdsprachenunterricht und zur österreichischen Frauenlyrik, sowie Schul- und Kinderbücher.

Minna Lachs verstarb 1993 in Wien.

Projekt:
Kontroverse Siegfriedskopf

Auftrag:
Neuaufstellung Siegfriedskopf im Arkadenhof der Universität

Künstlerisches Konzept, Bildbearbeitung, technische Realisierung:
Bele Marx & Gilles Mussard

Produktion:
Atelier Photoglas

Auftrag im Rahmen des Projekts:
Neugestaltung der Hauptaula, der Seitenaulen und des Hoftraktes der Universität Wien

Architektur:
BAUMEISTERARCHITEKTEN, Arch. Roger Baumeister

Wissenschaftliche Beratung:
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Universität Wien

Planung und Realisierung:
2003–2006

Auftraggeberin:
Universität Wien
Bundesimmobiliengesellschaft (BIG)

Ort:
Arkadenhof der Universität Wien
Universitätsring 1, 1010 Wien

Text- und Bildrechte:
Wiener Stadt- und Landesbibliothek
Verband Wiener Arbeiterheime
Österreichische Hochschülerschaft
Facultas Verlags- & Buchhandels AG
Dr. Thomas Lachs

Produktion, Montage Bügel:
Atelier Photoglas

Glastechnik Bügel:
Photoglas

Glaskubus:
Hauptverantwortlich für Herstellung und
Montage der Gesamtkonstruktion des Kubus:
METALLBAU WURZER

in Kooperation mit:
Glas- und Systemtechnik Puppitz GmbH

Verbundglas-Kubus:
Isolar Isolierglaserzeugung GmbH

Glastechnische Beratung:
Franz Zapletal

Fotografie und Grafik, sofern nicht anders gekennzeichnet:
Bele Marx

© für Fotografie und Grafik, sofern nicht anders gekennzeichnet:
Bele Marx & Gilles Mussard

Eröffnung:
13. Juli 2006

Eröffnungsrede:
Angelica Bäumer

www.belegilles.com

links:

BAUMEISTERARCHITEKTEN, Arch. Roger Baumeister
Universität Wien

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