Kontroverse Siegfriedskopf
Die Schrift verteidigt sich selbst
Wir haben den Siegfriedskopf von seinem Sockel gestürzt, in seine Bestandteile zerlegt und mit Schrift ummantelt. Diese Schrift dominiert die Skulptur und schildert antisemitische Übergriffe an der Universität Wien in den 1920er Jahren, die vor allem die Gruppe zu verantworten hat, die den Siegfriedskopf finanzierte. Sollten zukünftig Angriffe auf die Erzählung stattfinden, weil der Kontext des Antisemitismus nicht anerkannt wird, so kann die Schrift sich im wahrsten Sinn des Wortes ,verteidigen‘ und ihre Dominanz von Mal zu Mal verstärken.
Bele Marx & Gilles Mussard
Vor allem die Schrift, als Zeugnis historischer sowie kultureller Vergangenheit und Gegenwart, steht im Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung: Das geschriebene Wort erhält zentrale Bedeutung. Denn Geschichte wird durch Schrift festgehalten und dokumentiert, und es sind wiederum Schriften, die in diktatorisch geführten Regimes zensuriert oder gar vernichtet werden.
Um die Schrift als aktives Element einzubeziehen, wurde eine Darstellungsform gewählt, die jene als Teil eines sich stets verändernden Prozesses sieht. Das Künstlerpaar hat mit seiner Arbeit das Thema Bücherverbrennung in der Form thematisiert, dass die Schrift im Falle eines Eingriffs diesem entgegenwirken kann. Je mehr auf die Erzählung losgegangen werden würde, umso deutlicher würde die Erzählung in den Vordergrund treten und die Skulptur noch mehr dominieren. In subtiler Weise antwortet und verteidigt sich die Schrift-Skulptur, wenn notwendig, gegenüber möglichen Eingriffen.
Der Siegfriedkopf, ursprünglich 1923 zur Ehrung der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in der Aula der Universität Wien aufgestellt, wurde bald zur Ikone der deutsch-nationalen Studentenverbindungen. Im Zuge des Umbaus und der Sanierung von Aula, Seitenaulen und Arkadenhof der Universität, sollte auch dieses Monument im kritischen Licht der Geschichtsaufarbeitung präsentiert werden. Bele Marx & Gilles Mussard haben den Siegfriedkopf von seinem Sockel »gestürzt« und ihn mit einer Schrift ummantelt. Diese Schrift dominiert die Skulptur und schildert antisemitische Übergriffe an der Universität Wien in den 20er Jahren, die vor allem die Gruppe zu verantworten hatte, die den Siegfriedskopf finanzierte. In subtiler Weise »antwortet« und »verteidigt sich« die Schrift-Skulptur, wenn notwendig, auf mögliche Eingriffe und lässt die Erzählung akkurat und von Mal zu Mal stärker hervortreten.
Kontroverse Siegfriedskopf
Im Zuge des Umbaus und der Sanierung von Aula, Seitenaulen und Arkadenhof der Universität Wien wurde der Siegfriedskopf von der Aula in den Arkadenhof verlegt. Die sich über mehrere Dekaden hinziehende Kontroverse um das Gefallenendenkmal waren Anlass, den Siegfriedskopf durch ein Kunstprojekt in einen neuen Kontext zu stellen. Mit der künstlerischen Konzeption und technischen Ausführung wurden Bele Marx & Gilles Mussard beauftragt. Der neue Kontext des Gefallenendenkmals wurde mit Roger Baumeister, dem Architekten der Universitäts-Neugestaltung, sowie dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien unter Leitung von Ao.Univ.Prof.Dr.Mag. Friedrich Stadler zusammen mit Mag. Mario Wimmer erarbeitet.
Eröffnungrede von Angelica Bäumer
anlässlich der Präsentation der Schriftskulptur im Arkadenhof der Universität Wien im Juli 2006
„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ – diesen flammenden Appell einer großen Dichterin müssten wir uns täglich vor Augen halten. Die Wahrheit – wie oft ist sie gebogen und gebrochen worden, umgeformt, zur gerade passenden politischen Lage von Kirche, Staat und bürgerlichem Recht.
Nehmen wir hier und heute „Wahrheit“ als Überlegung für den seit Jahrzehnten wild umstrittenen Siegfriedskopf:
Autobiografische Erinnerung von Minna Lachs
Text auf dem Glaskubus
»In der Germanistik interessierten mich zunächst die Vorlesungen des Prof. Paul Kluckhohn, des Experten für die deutsche Romantik. Doch ich kam bald darauf, daß er, wie immer er seine Vorlesungen auch betitelte, unweigerlich bei der deutschen Romantik landete und dort auch aufhörte. Ich war im 3. Semester, als ich mich bei Prof. Kluckhohn zu einem Kolloquium anmeldete. Er hielt die Prüfungen in Dreiergruppen ab und gestattete Studierenden zuzuhören. Ich war in einer Gruppe mit zwei ahnungslosen Studenten, die sich anscheinend auf ihre Schmisse verlassen hatten. Der eine schüttelte bei der ersten Frage den Kopf und tat den Mund fast nicht auf, und die Frage ging an den zweiten Prüfling über, der Unzusammenhängendes murmelte, und die Frage landete bei mir, ich beantwortete sie richtig und ausführlich. Das ging so eine Weile, bis sich der Professor erhob.
Minna Lachs
»Minna Lachs, 1907 als Minna Schiffmann in Trembowla, Ostgalizien, geboren. 1914 Flucht vor den Kriegsereignissen nach Wien. Studium der Germanistik, Romanistik und Psychologie, Lehramt, und Promotion mit einer Arbeit über die deutsche Gettogeschichte. Frühzeitig aktiv in der jüdischen Jugendbewegung, wo sie unter anderen Manès Sperber kennen lernt. Sprachunterricht an Privatmittelschule, über die Bildungsbewegung in die Sozialdemokratie. 1938 im Juli Geburt eines Sohnes. Emigration in die Schweiz, von dort über Spanien auf dem berüchtigten Flüchtlingsschiff ›Navemar‹ in die Vereinigten Staaten. Unterricht an Privatschulen.
1947 Rückkehr nach Wien ›aus dem Glauben an das andere Österreich‹. Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit an Mittelschulen. 1954 Direktorin einer Wiener Mittelschule. Ab 1950 Arbeit für Unesco. 1956 Vizepräsidentin der österreichischen Unesco-Kommision.«
Aus: Minna Lachs, Warum schaust du zurück.
Erinnerungen 1907-1941
(Europaverlag: Wien München Zürich, 1986).
Bücher und Publikationen: Autobiografie in 2 Bänden,
Bücher und Artikel zum Fremdsprachenunterricht und zur österreichischen Frauenlyrik, sowie Schul- und Kinderbücher.
Minna Lachs verstarb 1993 in Wien.
Projekt:
Kontroverse Siegfriedskopf
Auftrag:
Neuaufstellung Siegfriedskopf im Arkadenhof der Universität
Künstlerisches Konzept, Bildbearbeitung, technische Realisierung:
Bele Marx & Gilles Mussard
Produktion:
Atelier Photoglas
Auftrag im Rahmen des Projekts:
Neugestaltung der Hauptaula, der Seitenaulen und des Hoftraktes der Universität Wien
Architektur:
BAUMEISTERARCHITEKTEN, Arch. Roger Baumeister
Wissenschaftliche Beratung:
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Universität Wien
Planung und Realisierung:
2003–2006
Auftraggeberin:
Universität Wien
Bundesimmobiliengesellschaft (BIG)
Ort:
Arkadenhof der Universität Wien
Universitätsring 1, 1010 Wien
Text- und Bildrechte:
Wiener Stadt- und Landesbibliothek
Verband Wiener Arbeiterheime
Österreichische Hochschülerschaft
Facultas Verlags- & Buchhandels AG
Dr. Thomas Lachs
Produktion, Montage Bügel:
Atelier Photoglas
Glastechnik Bügel:
Photoglas
Glaskubus:
Hauptverantwortlich für Herstellung und
Montage der Gesamtkonstruktion des Kubus:
METALLBAU WURZER
in Kooperation mit:
Glas- und Systemtechnik Puppitz GmbH
Verbundglas-Kubus:
Isolar Isolierglaserzeugung GmbH
Glastechnische Beratung:
Franz Zapletal
Fotografie und Grafik, sofern nicht anders gekennzeichnet:
Bele Marx
© für Fotografie und Grafik, sofern nicht anders gekennzeichnet:
Bele Marx & Gilles Mussard
Eröffnung:
13. Juli 2006
Eröffnungsrede:
Angelica Bäumer
www.belegilles.com
links:
BAUMEISTERARCHITEKTEN, Arch. Roger Baumeister
Universität Wien