heimat made in schlins, Interview mit Christoph Hackspiel
Rohfilmfassung
Diese Sequenz entstand im Rahmen des Kunst-und-Bau-Auftrags „heimat–made in Schlins, ein festiver filmdrehtag“ des Landes Vorarlberg in der Paedakoop Schlins in Vorarlberg.
Das Potential dieses Projekts soll nunmehr künstlerisch erweitert und um Experimentalfilme bereichert werden. Die Fertigstellung der Arbeit ist für 2025 vorgesehen.
„ (…) Heimat ist identitätsstiftend. Jedenfalls galt sie es in rühmlichen und unrühmlichen Zeiten seit der Romantik. Und heute? Wird in unserer globalisierten Welt die Sehnsucht nach Heimat, einst das Selbstverständlichste überhaupt, zur Kampfansage gegen das Fremde? Oder sind vielmehr wir selbst am Weg, der Heimat fremd zu werden? Wer sollte diese Fragen beantworten, wenn nicht Kinder und Jugendliche. (…) Ein erweitertes Projekt als vielschichtiges Kaleidoskop aus Bildern und Szenen, welches die Vorstellungen und Klischees von Heimat spielerisch aufs Korn nimmt, hinterfragt und mit einer Prise Selbstironie würzt. Es geht aber nicht nur um Vorurteile, sondern auch um das Verbindende, den Bezug von Selbsterfahrung und Identität. Was kann unternommen werden, um Resilienz zu stärken?“
„Zwei Monate lang arbeitete das Künstlerpaar Bele Marx & Gilles Mussard mit Kindern und Jugendlichen der Paedakoop Schlins an einem künstlerischen Projekt im Bereich der bildenden und darstellenden Kunst. Die Arbeit dieser Zeit – ein Drehbuch wurde geschrieben, Kulissen wurden gestaltet, Rollen verteilt … – mündete in einen „festiven Drehtag“ auf der Burgruine Jagdberg. Ateliers wurden eingerichtet – für Performance, Kulisse, Zeichnen, Maske, Akrobatik. Befreundete, unterstützende KünstlerInnen bereicherten das Projekt zusätzlich. Alle Mitwirkenden, die Jugendlichen, die rund 80 MitarbeiterInnen der Paedakoop und auch die am Jagdberg ansässigen Flüchtlingsfamilien wurden aktiv eingebunden. Das beauftragte Künstlerpaar schrieb mit den Kids an einem Drehbuch, alle Gäste wurden in Ateliers eingeteilt. Jedes Atelier bekam unter der Leitung der Jugendlichen eine Aufgabe. Es entstanden aus dieser Zusammenarbeit wunderbare Bilder und Szenen, die im Rahmen von Filmpräsentationen und Ausstellungen gezeigt werden.
(…) Befreundete KünstlerInnen, darunter Timna Brauer, Astrid*Walenta und Bertram Gamohn, bereicherten das Projekt zusätzlich und zeigten sich mitunter in ungewöhnlichen Rollen. So kann man Timna Brauer, die den Soundtrack zum Film komponiert hat, erstmals beim Jodeln erleben.
Die als Filmskulptur inszenierte Fassung stellt es den BetrachterInnen frei, aus den Sequenzen des Films eine eigene Dramaturgie zu entwickeln – oder sich einfach von den Verrückungen und Verrücktheiten von „Heimat“ anregen zu lassen.“ (aus Synopsis)
Ein erweitertes Kunst-und-Bau-Projekt im Auftrag des Landes Vorarlberg.
Produktion couscous & cookies, verein für elastische poesie in Kooperation mit Paedakoop, Vorarlberger Kinderdorf und Werk der Frohbotschaft Batschuns.
Copyright © Bele Marx & Gilles Mussard
Widmung
Raimund Kerbl
Dieser Film ist Raimund Kerbl gewidmet, er hat uns im Sommer 2023 verlassen und wäre am 21. Oktober 81 Jahre alt geworden. Tiptop, was er mir mitgegeben hatte, als ich als Teenagerin in seinem Haus lebte. Es war, als ob man in ein Theaterstück – angesiedelt zwischen dem „Kirschgarten“ und dem „Zauberberg“ – gesprungen wäre.
Hier sei meiner Mama gedankt, dass sie das ermöglichte. Wir sind mit meinem Bruder in eine „Edelkommune“ gezogen – jede und jeder war besonders, mit einer besonderen Geschichte, sowohl die Bewohnerinnen als auch die zahlreichen Sommergäste, die wochenlang, manchmal sogar monatelang blieben. Das Haus ist groß. Die Zimmer nicht zu zählen.
In einem Theaterstück zu leben und aufzuwachsen ist etwas anderes, als es aus sicherer Entfernung von einem Zuschauerraum aus zu beobachten, dann nach Hause und wieder seiner Wege zu gehen. Das Theater war mein Zuhause, Grödig war mein Zuhause, und es war so anders und so besonders, Raimund war so anders und so besonders, außergewöhnlich, sehr konservativ, manchmal kratzbürstig und überhaupt nicht einfach (wir hatten unsere Wickel und unsere Unterbrechungen – wie viele seiner Weggefährten), und gleichzeitig war er überraschend, offen und manchmal sogar progressiv, oft begeistert, auch sehr heiter, tiefreligiös, ausgestattet mit einem außergewöhnlichen Wissen, gewitzt und mit viel Humor gesegnet, er konnte nämlich ein richtiger Charmebolzen sein, und dann wieder sehr ungehalten und unfassbar grantig werden. Brüllender Löwe, als solchen bezeichnete er sich selbst manchmal. Ein Beispiel: In den Achtzigerjahren gab es Unstimmigkeiten mit dem damaligen Pfarrer von Grödig. Wir saßen im Garten und jausneten, als der Pfarrer immer just zu diesem Zeitpunkt seine Rosen auf der anderen Seite der Mauer gießen musste und sich dabei so „ungeschickt“ anstellte, dass uns jedesmal ein regelrechter Sprühregen erwischte. Ob das Raimunds Insistieren geschuldet war, der bei der Messe unbedingt einen seiner Meinung nach ihm gebührenden Platz einnehmen musste, ist wahrscheinlich. Wie auch immer, der Sprühregen wurde beantwortet mit der Platzierung von großen Steinen bei der Einfahrt zum Kirchenparkplatz. Dieses kleine Eckerl der Einfahrt war nämlich Raimunds Grundeigentum. Friedhofs- und Kirchenbesucherinnen hatten ihre liebe Mühe, ihr Auto unbeschadet hindurchzukutschieren. Beschwerden wurden ignoriert. Der Pfarrer ließ das nicht auf sich sitzen und organisierte bei anstehenden Straßenrepaturarbeiten das Aufreißen der Straße mit den großen Stemmarbeiten um sieben Uhr früh direkt vor Raimunds Schlafzimmer – und nicht am Ende der Straße, mehrere hundert Meter weiter entfernt. Raimund wohnte damals noch im Erdgeschoß und das schwere Gerät kam ca. vier Meter von seinem Bett entfernt zum Einsatz. In solchen Momenten gab es dann den Auftritt „brüllender Löwe“. Wie die Geschichte mit diesem Pfarrer schlussendlich ausgegangen ist, weiß ich allerdings nicht mehr.
Fad war anders. Für Abwechslung war gesorgt und für Überraschungen war er gut. Auch darin war er ein glühender Verehrer von Thomas Bernhard, der ihn ebenso sehr schätzte. Neue Bücher wurden sofort gekauft, gleich mehrere Exemplare auf einmal, und wir lasen gemeinsam „Holzfällen“, mit Raimunds informativen und humorvollen Kommentaren. Fernsehinterviews mit Thomas wurden mit großer Freude und Begeisterung verfolgt.
Bis heute habe ich keinen Menschen getroffen, der so viel Wissen in sich trug – Begebenheiten im Mittelalter konnte er so schildern und verständlich machen, als wären sie erst gestern geschehen und er ein Zeitzeuge davon gewesen. So sehr er im Mittelpunkt stand und dominierte, so wenig stellte er sich und seine Leistungen in den Vordergrund. Er sprach eigentlich selten über sich. Die Fertigstellung seiner Dissertation „Byzantinische Prinzessinnen in Ungarn zwischen 1050 und 1200 und ihr Einfluss auf das Arpadenkönigreich“ ist Karin zu verdanken. Sie bestand darauf, dass die Dissertation nicht liegen gelassen – angeblich lag sie schon 16 Jahre in der Schublade – sondern fertiggestellt und abgegeben werde, und opferte ihre Abende, um mit ihm das Manuskript zu tippen. Die Arbeit erhielt schließlich eine Auszeichnung. Bei Gesprächen zwischen ihm und Professor Leitsch, seinem Doktorvater, hatte ich Mühe herauszufinden, über welche Zeit gesprochen wurde, auf Einzelheiten, wie die Bestimmung des Jahrzehnts, will ich gar nicht erst eingehen, ich war schon froh, wenn ich das Jahrhundert ausmachen konnte, so detailliert wurde gesprochen. Wenn ich dennoch Fragen stellte oder mich traute, eine Meinung zum Besten zu geben, wurde mir nicht das Wort abgeschnitten, sondern es wurde zugehört, nachgefragt (manches mit dem Ausruf „Kind Gottes“ und einem Augenrollen kommentiert), bis klar war, wie ich auf diese Idee gekommen war, welchen Gedanken ich verfolgte und, wenn das immer noch nicht klar war, wie ich die Idee vielleicht verständlicher formulieren könnte – beim nächsten Mal. Meine Gedanken wurden in deren Gespräche aufgenommen. Es wurde debattiert. Ich wurde trotz meines Unwissens ernst genommen. Das passierte mir dort zum ersten Mal. Ein Labsal. Den beiden war vermutlich nicht bewusst, wie wichtig das für mich war. Nicht zurückgewiesen zu werden, sondern ernst genommen, ja sogar einbezogen. Wie sehr mich das stabilisierte. Darauf konnte ich aufbauen.
Dafür bin ich ihm dankbar, das konnte ich ihm noch sagen, jetzt, und deswegen widmen wir ihm den Film. Diesen Film, genauer gesagt diese Filmsequenz, sie ist eine Schlüsselsequenz, konnte ich ihm auch noch zeigen. Er wird Teil eines größeren Films werden, in dem es um das Thema Heimat geht, und eben ihm gewidmet werden. Meine Dankbarkeit hat wiederum ihn sehr gestärkt in den Tagen seiner Krankheit. Meine Dankbarkeit hat er mir gedankt. Mehrmals. Es war damals so viel spannender, bis spät in die Nacht mit ihm und den Gästen zusammen zu verweilen, als in der Früh pünktlich in die Schule zu kommen. Was interessiert Physik?
Als ein Hausgast in seiner manischen Phase durch Zufall das Überangebot an Tomaten in der Küche meiner Mutter entdeckte, wurde Schlag Mitternacht zum gemeinsamen Sugokochen aufgerufen, alle wurden eingespannt, vom Erdgeschoß bis in den zweiten Stock, die Tomaten wären sonst hin gewesen. Wir haben geschnipselt, diesmal ausnahmsweise unter Anleitung des Hausgastes, sonst war Raimund der Küchenchef. Raimund schnipselte und philsophierte und parlierte mit uns. Das Tomaten-Ergebnis wurde unter allen verteilt. Wir saßen bis vier oder fünf Uhr früh zusammen. So lebten wir.
Das Alter der Protagonistinnen war wurscht. Es spielte keine Rolle. Auch die Zeit stand still. Sie existierte nicht. Sie war kein Thema. Als wir in der Schule den „Zauberberg“ lasen, dachte ich mir, da wird mein Zuhause beschrieben. Als ich im Theater den „Kirschgarten“ sah, dachte ich mir, die Theaterkarten kann ich mir sparen, das hab ich z’Haus. Jeden Tag.
Raimund war ein schlechter Schüler in Mathematik. Sagte er. Er bezeichnete sich als mathematischen Trottel. Einmal kam ich mit meiner Schulfreundin Katharina nach Hause, sie war so lieb, mit mir gemeinsam die Integralrechnungshausaufgabe zu lösen, denn ich hab’s nicht gecheckt und brauchte da noch Nachhilfe. Raimund besuchte uns, setzte sich zu uns und bat um die Hausaufgabe, aus reiner Neugierde. In relativ kurzer Zeit hatte er eine Lösung, auf Basis philosophischer und logischer Überlegungen, und wartete, bis auch wir ein Ergebnis vorweisen konnten, was dauerte, besonders bei mir. Mein Ergebnis war falsch, das von Raimund und Katharina, die ebenfalls lange gebraucht hatte und eine der Besten in diesem Fach war, war richtig. Und das, obwohl er sich seit seiner Matura nicht mehr mit Mathematik beschäftigt hatte. Er war stolz auf sich. Die Geschichte wurde immer wieder in Erinnerung gerufen. Zuletzt im April 2023, bei unserem letzten Wiedersehen.
Wer jetzt glaubt, wir haben immer intelligente Abende und Zeiten verbracht, irrt. Mindestens einmal in der Woche gab es die Lästerstunde. Das war, wenn „Dallas“ oder der „Denver-Clan“ im Fernsehen lief. Raimund thronte mit den beiden Cockerspaniels in seinem Bett, und wir saßen drum herum und schauten und kommentierten gemeinsam, es wurde gelästert und gefrotzelt, was das Zeug hielt. Herrlich, ein wöchentlicher Jour fixe.
Er konnte Latein sprechen und somit wurde für die Matura Lateinübersetzen geübt. Und zwar nur das. Ich hatte Latein schriftlich und auch gleich mündlich dazu genommen, denn: Dass ich schriftlich einen Fetzen schreib, war klar, somit hatte ich mündlich kein zusätzliches Fach, aber ich durfte mir nicht mehr als drei Fehler erlauben. Wir haben nonstop Übersetzen geübt und es lief zwischen ihm und mir die Wette, ob ich mit meinen Übersetzungskünsten die Jury zum Lachen bringe oder nicht. Wir haben beide gewonnen, die Matura hab ich geschafft, drei Fehler, aber der dritte Fehler war so gravierend, dass er den Sinn des vorher Gesagten vollkommen ad absurdum führte und die Jury zum Lachen brachte.
Kosta und Raimund brachten mich am Ende des Sommers nach meiner Matura mit meinen beiden Koffern nach Wien. Es war mein Auszug. Sie fragten sich, ob ich meine Wünsche und Vorhaben wohl umsetzen werde und wie mein Leben weiter verlaufen würde.
Ich blieb Raimund, Kosta, Grödig und den Sommergästen verbunden, nach mir und meinem Bruder kamen andere Wahlkinder. Wie Hanička, Elia, Aaron.
Als unser Freund Ari aus Bosten vor einigen Jahren in Salzburg zu tun hatte, bat er mich, ihm die Orte meiner Kindheit und Jugend zu zeigen. Ich lud uns auch nach Grödig ein und verriet unseren Gastgebern Aris Vorliebe für Schweinsfleisch. Beim vorabendlichen Anruf erkundigte ich mich, was wohl kredenzt werden würde. „Wir essen Shrimps und Ari kriegt seine Schweinsstelze.“ „Das geht nicht“, erwiderte ich, „entweder alle Shrimps oder alle Schweinsstelze.“ Die Shrimps waren schon besorgt und die Schweinsstelze konnte beim Fleischer nicht mehr abbestellt werden. „Kind Gottes, solche Witze kannst du doch mit uns nicht machen.“ Seitdem soll ich dem lieben Ari Grüße ausrichten „Richte dem lieben Ari Grüße aus, wir essen jetzt seine Schweinsstelze.“ Diniert wurde an der langen Tafel, wenn besondere Gäste erwartet wurden, sonst tat es die Sommerküche zwischen Garage und Heizraum auch.
An dieser Stelle sei Gertraud gedankt, die mit unermüdlichem Einsatz über Jahre hinweg eine perfekte Struktur, Ordnung und Organisation in das Haus brachte. Sie war nicht zu stoppen. Nicht zu verwechseln mit meiner Mutter, die ebenso den Vornamen Gertraud trägt und in diesen Angelegenheiten der Ersterwähnten diametral gegenübersteht. Meiner Mutter hat Raimund den Ausbau der Wohnung zu verdanken, in der er am Schluss lebte. Als wir diese Wohnung kurz vor unserem Einzug in den Achtzigern gemeinsam einrichteten, lernte ich beim „Engeltragen“ Detlev kennen. Wir schleppten die Engel unter der gemeinsamen Direktive von Raimund und meiner Mama durch das Wohnzimmmer hin und her, wortlos, nach einiger Zeit sichtbar genervt, kreuz und quer, bis endlich der geeignete Platz gefunden wurde. Engeltragen dauert eben. Detlev war mit Rory, Kosta, Gertraud, Loredana und dem Professor samt Familie, Kind und Kegel, also mit Milly, Marie-Thérèse und Markus sowie den Hitzens, den Fürsts und Wolfi (Tschuppik) fester Bestandteil der Sommergäste. Neben den Hausbewohnerinnen Karin, Ronald und Berthold und anderen bildeten wir eine volatile Kommune. Mein Bruder und ich waren die einzigen Kinder, die permanent in dem Haus lebten. Und wenn man sich diese Truppe aus der Distanz anschaut, so profitierten in dem Hause alle voneinander. Eine Wahlfamilie, eine „Edelkommune“, wie ein Hausgast zu sagen pflegte. Mit allem, was dazugehört, Frotzeleien und Dramen gehörten auch dazu. Im Sommer fanden zahlreiche Einladungen statt, Raimund war ein leidenschaftlicher Gastgeber. Menschen waren willkommen, keiner wurde ausgeschlossen, Außergwöhnliches bewundert, Besonderheiten unterstützt, Anderssein betont.
Als wir mit Ari dinierten, wollte ich wissen, wie es eigentlich um das Projekt „Hauskapelle“ bestellt sei. Raimund war ein tiefreligiöser Mensch. Die Hauskapelle, ein Wunsch und Vorhaben, das schon in meiner Teenagerzeit Thema war. Rosemarie erwiderte: „Eigentlich wäre mir ein Tempel lieber gewesen.“ „Gewesen?“, fragte ich Raimund. „Naja, herausgekommen ist jetzt eine Moschee.“
Das ist Grödig. So war Grödig.
Gäste. Gelegenheiten. Geschichten.
Anekdoten über Anekdoten.
Der wirkliche Reichtum eines Menschen ist der Reichtum seiner Beziehungen.
Zuhören, ernst nehmen und an jemanden glauben, das stabilisiert als Jugendliche, nimmt dir die Wut und gibt dir Resilienz. Dafür danke ich. Ich hätte sonst heute ein anderes Leben.
Bele Marx
Wien, 21.10.2023