Die Linde – Le Tilleuil

Die Linde – Le Tilleuil

Das Kunst- und Bauprojekt Die Linde setzt die beiden Innenhöfe des steiermärkischen Landesarchivs miteinander in Beziehung. In einem der beiden Höfe ist das Archiv untergebracht, dort liegen Originalunterlagen zur Einsicht auf.
Im Zentrum des anderen Hofes steht eine Linde. Dieser Baum wurde für das Team zum Subjekt ihrer künstlerischen Arbeit. Sie fotografierten das Zeitzeichen Linde zu verschiedenen Momenten der vier Jahreszeiten. Die Fotos wurden anschließend in einem sehr aufwendigen Verfahren am Computer bearbeitet. Mit diesem Kunstwerk wird eine Brücke zum Archiv, dem geschriebenen Gedächtnis eines Landes geschaffen. Betrachtet man beide Höfe von der Vogelperspektive aus, so birgt der eine Hof das menschliche Wissen und deren Schöpfungen in sich und der andere Hof das natürliche Wissen und dessen Geschichte. Der Baum symbolisiert Beständigkeit, wie das Archiv auch – es sind die Erscheinungsformen die im Laufe der Zeit verschiedene Interpretationsmöglichkeiten geben oder zulassen.

Menschen kommen in das Archiv, um mit dem gespeicherten Wissen zu arbeiten. Sie verwerten, interpretieren und kopieren diese Inhalte, jedoch verlassen immer nur Kopien und sowie Interpretationen und nie Originaldokumente den Raum. Die vier Jahreszeitenfotos der Linde stellen die verschiedenen Erscheinungsformen des Baumes dar – sie symbolisieren verschiedene Interpretationsmöglichkeiten des Baumes – da wir vielleicht immer nur Erscheinungsformen sehen, und nicht die Sache an sich. Weil sich Menschen in der Zeitachse nicht beliebig vor- oder rückwärts bewegen können, ist die Wahrheit für uns nicht sichtbar. So wie wir subjektiv wahrnehmen und interpretieren und dabei nicht Veränderungen zeitgleich wahrnehmen können, so spielt diese Arbeit mit dem Phänomen der Zeit, Wirklichkeit und Wahrnehmung.

Eröffnungsrede von Rainer Fuchs

anlässlich der Präsentation des ersten Teiles von

Die Linde-Le Tilleuil
am 7. Oktober 2000 im Steiermärkischen Landesarchiv
im Rahmen des steirischen herbst 2000

Ich darf Ihnen heute diese im Hof installierte Arbeit vorstellen: diese Arbeit ist das Siegerprojekt eines vom Land Steiermark ausgeschriebenen Wettbewerbs. Die Aufgabenstellung lautete eine Arbeit zu konzipieren, die nicht nur auf die Architektur Bezug nimmt, sondern die sich auch auf die Funktion dieses Gebäudes und dieser Institution – ein Archiv – bezieht. Ein Archiv ist eine Art Geschichtsspeicher, es ist das historische Gedächtnis des Landes. Auch ist ein Archiv nicht einfach ein Ablageplatz, sondern eine Anlaufstelle für die Interpretation der Geschichte. Historische Quellen machen ja nur dann Sinn, wenn man sie beachtet, interpretiert, bewertet und auf diese Art und Weise wieder in die lebendige Geschichte zurückschleust. Und insofern hat ein Archiv und haben historische Quellen auch mit der Kunst sehr viel gemeinsam, denn auch Kunst ist eine Bewußtseinstechnik, die sich der Realität und dem Vorhandenem zuwendet, es beobachtet, interpretiert, Artefakte schafft, also historische Fakten, die zugleich auch wieder den Fortgang der Kunstentwicklung mitbeeinflussen.

Bele Marx und Gilles Mussard nutzten das Potential dieser Institution, um auch die Kunst als ein Potential zu definieren, das von Prozessualität und Geschichtlichkeit handelt. Sie vermieden es dabei in eine didaktisch plakative Geschichtskunst zu verfallen und entwickelten ein sehr metaphorisches Konzept, das die Natur der Geschichte anhand der Geschichte eines Naturobjektes thematisiert. Sie wählten diese Linde in der Mitte des Hofes als das zentrale Motiv, an dessen jahreszeitlichen Veränderungen sich auch das Vergehen der Zeit und das Vergehen von Geschichte symbolisch und real spiegelt. Sie fertigten zu jeder Jahreszeit von dieser Linde mehrere Aufnahmen an, wählten jeweils eine davon aus und verarbeiteten diese in Form transluzider Bildausschnitte. Diese montierten sie vor den Fenstern, die genau in den Achsen des Hofes liegen. Ohne dass die Linde verarbeitet oder verändert worden wäre, bildet sie das Zentrum und Hauptmotiv dieses Projektes. Das Verändern war auch gar nicht notwendig, weil die Zeit, die Natur diese Linde von sich aus ohnehin bearbeitet. Die Künstler haben sich also darauf verlegt, eine Darstellungsform zu finden, die diesen Veränderungsprozess dokumentiert ohne selbst in ihn einzugreifen. Diese Bildausschnitte sind daher Momentaufnahmen eines Wandels und es sind auch Arbeiten, die die Gleichzeitigikeit des Ungleichzeitigen vor Augen führen. Sie zeugen auch davon, dass ein Gegenstand jenseits seiner aktuellen Erscheinung immer auch zugleich ein Potential für Anderes und Mehreres ist. Und das führt uns wiederum zurück zu den historischen Quellen. Auch da kann man beobachten, dass einem Ereignis, einer Quelle gegenüber im Laufe der Zeit ganz verschiedene Betrachtungsweisen gewidmet sind, dass aber auch schon gleichzeitig verschiedene Betrachter ein und dasselbe verschieden betrachten. Es sind immer die Kontexte, die Rahmenbedingungen, die Umstände, die die Bedeutung der jeweiligen Quellen und Fakten, die wiederum die Kontexte verändern, bestimmen. Wir sind ja als Menschen mit unseren Körpern und mit unserer sozialen und mentalen Identität selbst ein sehr gutes Beispiel für die Verknüpfung ideologischer und biologischer Transformationen. Während wir unser Denken, unser Handeln, unser Argumentieren verändern, verändert sich auch unser Körper. Und es ist zu beobachten, dass unser Wissen immer stärker verantwortlich ist für die Veränderungen unseres Körpers. Ich sage das nicht um einen platten Biologismus das Wort zu reden, sondern um hervorzuheben, dass die politische, die ideologische und die soziale Dimension zu den genuinen Kompetenzen der menschlichen Existenz gehören. Es geht nicht darum, das stumme Walten der Natur mit der Geschichte als Schicksal zu vergleichen, sondern im Gegengteil festzuhalten, dass unsere Vorstellung von Natur ebenso ideologisch besetzt und bestimmt ist, wie unser Begriff von Geschichte auch. Was wir als Wahrheit erfahren, ist immer ein Konstrukt, das auch von medialen Prozessen und Erfahrungen geprägt ist. Diese Arbeit hier ist nicht einfach eine Bild-und Rauminstallation, sondern in erster Linie eine Art von Wahrnehmungskatalysator. Sie ermöglicht uns festzustellen und zu überprüfen, dass das was wir sehen, immer eine Funktion unserer Perspektive, unseres Blickes ist. Wenn wir hier im Hof stehen, überblicken wir das ganze Ensemble auf einmal, wenn wir aber durch die Gänge gehen, blicken wir auf den echten Baum durch Bilder seiner selbst. Man lernt also zu erkennen, dass das Verhältnis von Bild und Abbild nichts Statisches ist, sondern das Verhältnins einer Projektion, einer Verschiebung ist. Ein sonst Abwesendes wird hier auf ein Anwesendes projeziert und beide zusammmen verdeutlichen die Komplexität eines Gegenstandes, der sich niemals nur aus einer einzigen Warte und in einem einzigen Zustand erschließt. Es geht hier auch um das Herstellen von Beziehungen, die prinzipiell auch wieder auflösbar und neu konstruierbar sind. Wenn man sich im Gehen und Betrachten weiterbewegt kann man immer andere und neue Beziehungen herstellen. Die Information, die wir über Dinge haben, ist dabei ganz wesentlich für die Betrachtung und die Bewertung dieser Beziehungen. Auch das ist eine Facette dieser Arbeit, die auf die Funktion eines Archivs zurückverweist. Ein Archiv dokumentiert nicht einfach etwas, sondern es ist geradezu der Beweis dafür, dass Geschichte eigentlich Information bedeutet. So gesehen sind Archive nicht einfach Orte, die von der Macht der Geschichte und den in der Geschichte wirkenden Machtstrukturen handeln, sondern sie sind selbst Teil jener Machtstrukturen und Instrumente der Geschichte. Und nicht zuletzt auch darauf verweist diese Arbeit die das ständige Verändern gerade an einem Gegenstand vor Augen führt, der uns gewöhnlich als Inbegriff kontemplativer Ruhe, Stille und Harmonie erscheint. Es ist also durchaus angebracht, den idyllischen Vorstellungen von Natur zu mißtrauen aber auch der Vorstellung zu mißtrauen, daß ein Archiv ein ruhiger abgeschlossener Ort jenseits der Geschichte ist.

Auftrag:
Kunst am Bauauftrag, Pilotprojekt im Rahmen dessen die Technologie Photoglas erfunden wurde

Titel:
Die Linde – Le Tilleuil

Künstlerisches Konzept, Infografie, Realisierung:
Bele Marx & Gilles Mussard

Produktion:
Atelier Photoglas

Glastechnik:
Photoglas

Montage und glastechnische Beratung: 
Franz Bernhart GmbH

Auftrag im Rahmen des Projekts:
Umbau des Steiermärkischen Landesarchivs, Graz, Österreich

Architektur und Bauleitung:
Architektenteam Jörg & Ingrid Mayr, Graz, Österreich

Planung und Realisierung:
1997-2001

Auftraggeber:
Land Steiermark

Institution:
Steiermärkisches Landesarchiv
Karmeliterplatz 3
A – 8010 Graz, Österreich

Metallkonstruktion:
Fa. Treiber, Graz

Statik:
Fa. Treiber, Graz

Beleuchtung:
Pro Licht, Graz

Eröffnung des ersten Bauabschnitts:
Im Rahmen des Festivals steirischer herbst 2000

Eröffnung des zweiten Bauabschnitts:
Im Rahmen der Landesarchivneueröffnung 2001

Wir danken unseren Partnern
Franz Bernhart, Kurt Bernhart und ILFORD

und 
Walter Brunner, Dagmar Chobot, Serge Dautheribes, Roland Dufau, Friedrich Dostal, Rainer Fuchs, Pierric Gibert, Georg Grimm, Birgit Grokenberger, Manfred Klimek, Günter Koberg, Jörg Krasser, Sonja Lixl, Herbert Maierhofer, Kristina Posch, Michael Pfeifer, Mario Rott, Herr Steiner, Melanie Tesarik-Wieser, Franz Zapletal, Julia Zdarsky, Oliver Zehner sowie unserer Familie und allen unseren Freundinnen.

Das Projekt wurde mit Mitteln des FFF (Forschungsförderungsfonds) kofinanziert.

Fotografie, Bildbearbeitung und Grafik, sofern nicht anders gekennzeichnet: 
Bele Marx 

© für Fotografie und Grafik, sofern nicht anders gekennzeichnet:
Bele Marx & Gilles Mussard